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Und jedem Anfang

wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und

der uns hilft, zu leben.

Hermann Hesse

 

Schon seit ihrer Jugend fing Emmy den Tag mit dem ersten Hahnenkrähen an; sie fühlte sich wohl als früher Vogel. »Kalt, eiskalt ist das Wasser, noch«, bemerkte sie, als sie sich am Hofbrunnen wusch.
Die Sonne stieg nun jeden Tag höher. Frühmorgens dämpfte noch der Morgentau die Farben der Landschaft. Doch nachmittags öffneten die Winterlinge ihre Blüten und strahlten in fröhlichstem Gelb mit den Krokussen auf der Wiese um die Wette. Alles stand auf Anfang. Die ganze Kraft des Lebens brach auf zu neuen Ufern, zu einem neuen Spiel. Emmys liebste Jahreszeit begann, der Frühling. 

Zurück in ihrer Kammer zog sie sich ihren wadenlangen Rock und eine ihrer vielen Schürzen mit unendlich tiefen, ausgebeulten Taschen und die geliebte Strickweste über. Mit kräftigen Strichen bürstete sie ihr silbergraues Haar, bevor sie die hüftlangen, geflochtenen Zöpfe mit flinken Fingern zu einem Kranz hochsteckte. Einen Spiegel brauchte sie für ihre Morgentoilette nicht. Das Bürsten und Flechten, Knoten und Stecken bedeutete ihr so viel wie einem Bäcker das Einheizen des Ofens - eine Notwendigkeit, mehr nicht. Emmys rosig schimmernde Haut zeugte zusammen mit ihren ebenmässigen Gesichtszügen, den fein abgesetzten Augenbrauen und ihren vollen Lippen noch immer von ihrer früheren Schönheit. Nicht, dass Emmy je eitel gewesen wäre, mitnichten - oder Neffen würde sie selbst hier wohl gleich zwinkernd anfügen. Eitelkeit und Hochmut passten zu ihren Überzeugungen wie Zuckerguss über gegrillten Karpfen. Aber sie freute sich aufrichtig über, ihre Gesundheit und ihre guten Zähnen. 

Noch ahnte sie nicht, welch unerwarteten Verlauf dieser Markttag nehmen sollte. Nach der ersten Tasse Kaffee packte sie die Kisten mit eingeweckten Tomaten und Gurken, mit Akazienhonig und Marmelade, kleine Säckchen mit gedörrtem Obst und handgestrickte Socken auf die Pritsche ihres Wagens, ein klappriger Tempo Hanseat. Bis vor einigen Jahren benutzte sie für ihre Fahrten zum Graiffstett’schen Markt den Einspänner, an der Deichsel Samar, ihr grauer Freund. Das in seiner Jugend überaus störrische Maultier genoss inzwischen den wohl verdienten Ruhestand auf dem Hof, dem Amselnest. Er freute sich über jede Rübe, die er sich hin und wieder bei der Feldarbeit zusätzlich verdiente, wenn er das Gespann durch die holprigen Ackerfurchen zog. Nun nutzte sie ihren fast ebenso alten Tempo Hanseat.

Emmy warf einen kurzen Blick zu den gestapelten Kisten, festgezurrten Körben und versicherte sich, dass sie alles geladen hatte. Selbst an den Überschuss der unzähligen kleinen Basteleien vom letztjährigen Herbstmarkt hatte sie gedacht. Schachteln voll mit Duftsäckchen, Wachsblumen und bemalten Kleiderbügeln hatte sie noch gestern spät vom Estrich geholt, sortiert und hübsch verpackt. Der erste Markttag im Frühling war für Emmy schon immer ein besonderes Ereignis. Seit sie vor über zwanzig Jahren mit dem Wiederaufbau des Sundweiler-Gutes, dem heutigen Amselnest, begonnen hatte, hatte sie keinen Frühjahrsmarkt verpasst und auch keinen anderen ausgelassen.

Wie sie es liebte von Vogelgezwitscher begleitet durch die frühlingshafte Morgenluft Richtung Graiffstett zu tuckern! Ihr Wagen ruckelte gemütlich durch die erwachende Landschaft. Der Weg folgte einem kleinen Bach, der zwischen den noch nackten Buchen, Eschen und Bergahorn gegen Süden bis an den Rand der Ebene mäanderte und sich als Wasserfall vom Hochplateau ins Tal stürzte. Auf dem steilen, ausgefahrenen Weg hinunter zum Ufer des Njervals musste Emmy kräftig auf die Bremsen treten, damit ihr dreirädriges Gefährt mit seinen profilosen Reifen auch die letzte, enge Serpentine, jene vor der alten Holzbrücke über den Njerval erwischte. Mit ihren fünfundfünfzig Jahren hatte sie schon viele Kurven gemeistert, sinnbildlich im wahren Leben wie auch auf realen Strassen - allerdings meist durch Betätigung des Gaspedals. Das Drosseln ihres Tempos hatte sie durch harte Prüfungen auf ihrem Lebensweg erst lernen müssen. 

Als Emmy das Treiben auf dem Marktplatz erblickte, war sie froh über ihren frühen Aufbruch. So war sie nicht gezwungen, ihre Waren mit einem Handkarren über den gepflasterten Marktplatz zu bugsieren, sondern konnte bis an ihren gewohnten Standplatz in der zweiten Reihe fahren. 

Wie immer hoffte Emmy, auf dem Markt ihre Tochter und ihre Enkel zu sehen. Mollam lebte seit sieben Jahren zusammen mit ihrem Ehemann Fred Bückle und ihren beiden Kindern im Städtchen. Ihr Kontakt zerbröselte mit der Zeit wie Sandstein unter saurem Regen. Böse Worte waren nie gefallen, kein offener Streit hatte sie getrennt. Sie hatten lediglich, wie die Graiffstetter zu sagen pflegten, die Wurst nicht im selben Kamin hängen. Mollam hatte eines Tages verlauten lassen, sie befürchte, dass Emmy mit ihrem Amselnest das berufliche Fortkommen von Fred, inzwischen Sekretär des Schatzmeister, gefährde. 

Trotz der deutlichen Tendenz zu Hüftgold baute Emmy ihren Stand noch immer mit schwingendem Schritt und flinken Griffen zügig auf.
Nach einigem Hin und Her stand ihr Tisch bereit. Die Zeit vor dem traditionellen Marktbeginn um acht Uhr nutzte sie gern, um sich mit den frühen Graiffstett’schen Bettflüchtern auszutauschen. Der letzte Winter war hart gewesen, weshalb sich die Leute lediglich zur Wintersonnenwendfeier getroffen hatten. Selbst die Bürger im Städtchen hatten nur widerwillig einen Fuss vor die Tür gesetzt. Umso mehr freute sich Emmy darauf, nun von geplanten Hochzeiten, Geburten oder überstandenen Krankheiten zu hören. Auf dem Platz wimmelte es inzwischen von Marktfahrern, die ihre Tische richteten. Neugierige Schulkinder huschten auf dem Weg zur nahen Schule über den Platz. Und die Teebringer wieselten von Stand zu Stand; sie hatten bereits frühmorgens alle Hände voll zu tun, damit jeder seine klammen Finger an einer heissen Tasse wärmen konnte. Mit ihren bunten Mützen von weitem erkennbar folgten sie flink den begehrlichen Rufen und Aufmerksamkeit erheischenden Handzeichen. Ein immer wiederkehrendes Ritual zu Beginn des ersten Markttages des Jahres. 

»Hej, Felix!«, rief Emmy ihrem jungen Buchhalter Felix Zanders zu.
»Hej, Emmy! Lange nicht gesehen! Wie geht’s euch? «
»Ganz ordentlich«. Nachdem sie all seine Fragen nach der Befindlichkeit der Kinder, nach Gesundheit und Wohlergehen von Mensch und Vieh nach diesem schneereichen Winter beantwortet hatte, vereinbarten sie ein baldiges Treffen. Der Jahresabschluss musste durchgesehen werden und sie wollten mal wieder über Gott und die Welt plaudern. 

Unvermittelt blickte sich Felix verstohlen um und fragte leise: »Was meinst du zu der Sache?«
Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie verstand, was er damit meinte. »Hab‘ eben davon gelesen«, sagte sie und zeigte auf die Titelseite im Graiffstetter Wochenblatt. »Ich frage mich nur, wohin das Ganze führt«.
»Du befürchtest nichts Gutes, stimmt‘s?«
Emmy hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Seit zwei Monaten geht es schon so«, erklärte Felix weiter. »In den letzten vier Wochen wurde es immer schlimmer. Ruggassons Leute können die Plakate nicht genug schnell entfernen - nicht, bevor sie gesehen und beachtet werden! Eines weg, zwei Neue da!«
Und als ob Emmy bereits erahnte, was kam, flüsterte sie ihm zu: »Und es sind immer die Jungen, die sich getrauen. Ich sorge mich...«. 

Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, kündigten Fanfaren den landesfürstlichen Aufzug an. Am Tag des grossen Frühjahrsmarktes pflegte der Landesfürst Raumur Ruggasson sein Palais - mehr Festung als Schloss - zu verlassen, um sich dem gemeinen Volk zu zeigen. 

»In diesem Jahr also nicht in seiner protzigen Staatskarosse, sondern hoch zu Ross in königsblauer Paradeuniform«, raunte Emmy. Ein richtiger Aufpudler! Der hat’s wohl nötig, die Leute durch schillernden Prunk zu blenden. Ob er sich die mit Edelsteinen besetzten Orden in seiner Selbstverliebtheit eigenhändig an die Brust anheftet?, fragte sie sich und flüsterte Felix zu: »Wie der sich aufbläst mit den ruhmlosen Abzeichen und dem goldenen Dolch. Selbst seine Stiefel sind spiegelglatt gebürstet! Soll dem Auftritt wohl Glanz verleihen! Welch‘ ein Gegensatz zu seinem inneren Wesen!« Und die Leute fallen darauf herein, fügte sie in Gedanken hinzu. 

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